„Madeira - jetzt und später“

„Das ist die Landschaft, die bewegliche Summe ihrer realen Fragmente, gepflastert mit vermischten pagi, eine Zeichnung, die zum Sehen geschaffen ist, ein oder mehrere Wege quer durch ihre möglichen Darstellungen.“

Michel Serres, Die fünf Sinne


„Madeira jetzt und später“ beschreibt den Entstehungsprozess der Zeichnungen auf Madeira und danach in München. Auf der Insel sind die kleinformatigen Arbeiten mit Feder und schwarzer Tusche entstanden. Das ist das „jetzt“. Zurück in der Stadt schafft die Künstlerin Maria Hirster aus der Erinnerung die großformatigen Zeichnungen mit Pinsel und farbiger Tusche und weitere Materialien. Blicke von Betrachtern können zwischen diesem „jetzt“ und „später“ wandern. Ein Vergleich der großen und kleinen Zeichnungen liegt nahe. Wie in einem Zeitspiegel lassen sich die auf Madeira gezeichneten Pflanzen, Felsformationen oder die verschiedenen Eindrücke vom Meer mit den anschließend in München entstandenen Arbeiten betrachten.

In der Erinnerung verschieben sich die Eindrücke – Formen, Farben, Licht und Schatten, Bewegung und Stillstand. Minimale Veränderungen oder stärkere Abweichungen prägen die nachgeborenen großformatigen Zeichnungen. Sie sind offener – fast könnte man sagen „luft- und lichtdurchlässiger“ als ihre Inselvorläufer. Darin äußert sich aber vielleicht gerade Erinnerung, wenn sie neu kombiniert und anders zusammenfügt. Wie ein Spiel mit Versatzstücken und Erfahrungselementen, das sich vom direkten Kontakt, der unmittelbaren Gegenüberstellung befreit hat. Und auch das Zeichengerät spiegelt diesen Prozess: die Spitze der Feder schafft ein anderes Ergebnis als die Pinselborsten. Präziser und schärfer wirken die kleinformatigen Zeichnungen, ihre Linien heben sich stärker vom Blatt ab. Während der getuschte Pinsel dem Blatt die Farbe anzuvertrauen scheint, als wäre der Gegenstand immer schon da gewesen, nur eben gerade nicht greifbar.

Durch den Vorgang der Aufzeichnung, der Abstraktion – abstrahere: wegziehen, abziehen oder ins Schlepptau nehmen – wird die Zeichnung frei, eigenständig und unabhängig vom gezeichneten Objekt. Das unmittelbare Sehen oder das erinnernde Sehen hat dann nur für die Künstlerin Bedeutung. Und ist es nicht ihre Wahrnehmung, die durch das Abzeichnen das Dargestellte ins Schlepptau nimmt? Deswegen steht jede Zeichnung auch für sich und kann isoliert betrachtet werden.

Nora Rahman, Heidelberg